Des Christen Leben und Lehre |
Eins ist not
„Martha aber war sehr beschäftigt mit vielem Dienen; sie aber trat hinzu und sprach: Herr, kümmert es dich nicht, daß meine Schwester mich allein gelassen hat zu dienen? Sage ihr nun, daß sie mir helfe. Jesus aber antwortete und sprach zu ihr: Martha, Martha, du bist besorgt und beunruhigt um viele Dinge: eines aber ist not. Maria aber hat das gute Teil erwählt, welches nicht von ihr genommen werden wird.” - Lukas 10:40 - 42
Wir haben die Rede des Herrn vernommen. Was aber sagt Martha dazu? Sie schüttelt ein wenig den Kopf über die völlig unerwartete Antwort des Herrn. Sie kann das nicht ganz nachvollziehen: Ach, lieber Meister, es bezweifelt ja niemand, daß du dich auf die himmlischen Dinge trefflich verstehst. Aber die Notwendigkeiten des irdischen Lebens scheinst du nun doch nicht hinlänglich zu kennen und zu begreifen. Die Hausfrau hat nun in der Tat viele Dinge zu tun. Ich muß doch zu Mittag eine Suppe auf den Tisch stellen! Ich muß die Betten ordnen! Ich muß doch am Vorabend des Sabbaths das Haus reinigen. Ich muß doch für frische Wäsche sorgen. Ich muß doch für den Winter Vorräte einkellern und Holz zur Feuerung! Ich muß doch …” Sagt sie damit Jesus etwas Neues?
Anders Maria; sie hat das „gute Teil” erwählt. Sie glaubt und hört, daß diese Worte von einer anderen Welt kommen und zeugen; daß sie aus einer erlösten Welt stammen, die den Haß, die Rache, die Selbstsucht, die Lieblosigkeit, den ewigen Fluch und die Sünde und den Tod nicht kennt. Sie schlürft diese Worte begierig ein als Worte ewigen Lebens, als Musik aus anderen Sphären. Die Hoffnung, die sie in ihr erwecken, die geistige Freude kann ihr niemand nehmen. Sie ist erschienen. Das Evangelium ist erschienen, die Erlösung ist erschienen, die Hauptsache ist ihr deutlich geworden. Was sollen demgegenüber all die „Wichtigkeiten” dieser Welt noch für eine Wichtigkeit haben?
Wir glauben auch. Aber verstehen wir auch? Was ist denn das Eine, was not tut? Was sollen wir tun, um das ewige Leben zu erlangen? Was sollen wir nicht tun?
Unsere Geschichte scheint zu sagen: Wir sollen zu den Füßen Jesu sitzen, und wir sollen nicht „um viele Dinge” besorgt sein, wie Martha. Sollen wir denn unsere täglichen Aufgaben und Pflichten vernachlässigen, um uns so gut wie ausschließlich mit dem Worte Gottes, mit dem Evangelium zu befassen? Das will uns doch auch als Christen nicht recht verständlich erscheinen. So kann es doch sicherlich nicht gemeint sein. Es heißt doch auch: „Seid Täter des Wortes!” Und Jesus selber sagt: „Jeder nun, der irgend diese meine Worte hört und sie tut, den werde ich einem klugen Manne vergleichen, der sein Haus auf den Felsen baute.” - Matthäus 7:24
Aber beim Tun, da entstehen nun gleich wieder „die vielen Dinge”, in die jedes irdische Geschäft notwendigerweise zerfällt. Da kommt einer und sagt: das Eine, das not tut, das ist die Verkündigung der Wahrheit, durch Wort und Schrift, Verteilung von Schriften und im Radio. Da kommt ein anderer und erklärt: das Eine, was not tut, das ist die Heiligung: an sich selbst arbeiten, beten, singen, den Herrn loben! Da kommt ein Dritter: nein, Werke der Nächstenliebe, Armen helfen, Trinker retten, den Alkohol und das Laster bekämpfen! Geld sammeln für soziale Werke! Krankenhäuser stiften, entlassene Sträflinge betreuen. Ein Vierter: das wichtigste ist Seelen retten! Zur Bekehrung treiben, zur Buße und zum Sündenbekenntnis. Wieder ein anderer: Heidenmission! Das Christentum verbreiten, usw., usw.
Wir wollen durchaus nicht sagen daß es unnötig ist, all dies zu tun! Aber wo bleibt denn das Eine? Laßt uns einmal hören, was Jesus dem Gesetzesgelehrten antwortet, der mit der Frage an ihn herantritt: „Lehrer, was muß ich getan haben, um das ewige Leben zu ererben?” - Lukas 10:25 Er antwortet mit der Gegenfrage: „Was steht im Gesetz geschrieben? Wie liesest du?” Und der Gesetzesgelehrte sagt: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft und mit deinem ganzen Verstande und deinen Nächsten wie dich selbst.” Und Jesus erwidert darauf: „Du hast recht geantwortet; tue dies und du wirst leben.”
Also: das ist das Eine, das not tut. Das was zum Ziele führt. Aber nennt Jesus denn nicht zwei Dinge? Gott lieben und seinen Nächsten lieben? Es scheint zunächst so. Aber Jesus ist ja eben gekommen, um uns zu sagen, daß dies tatsächlich nur eine Sache ist. Der Inhalt seiner Lehre ist der, daß es keinen anderen Gottesdienst gibt als die Erweisung der Liebe zu den Geschwistern. Und Geschwister sind auch keine Feinde, weil auch sie zu der Familie Adams gehören. Der Apostel erklärt: „Wenn jemand sagt: ich liebe Gott, und haßt seinen Bruder, so ist er ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er gesehen hat, wie kann der Gott lieben, den er nicht gesehen hat? Und dieses Gebot haben wir von ihm, daß, wer Gott liebt, auch seinen Bruder liebe.” - 1. Johannes 4:20, 21 Das alles ist also eine Sache und unteilbar.
Uns fällt auf, daß Jesus in seiner Antwort keine Aufzählung von besonderen Glaubenspflichten gibt. Eins ist not! Wenn wir aber wissen wollen, was man unter dem „Nächsten”, der der wahre Gegenstand unserer Liebe zu sein hat, verstehen soll, so sagt es uns Jesus gerade an dieser Stelle mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter. - Lukas 10:30-37 Laßt es uns etwas näher betrachten.
Als der Priester und der Levit an dem in seinem Blute liegenden Landsmann vorüberkommen, da machen sie einen großen Bogen um ihn herum und gehen weiter ihren Geschäften nach. Begreiflich, sie haben viel Wichtiges zu tun. Der Priester eilt in den Tempel, um seinem Gott Opfer zu bringen, und der Levit eilt ebenfalls zu seinem wichtigen Tempeldienst. Beide meinen, daß sie das Eine tun wollen, was not tut. Wenn sie ausbleiben oder zu spät kommen, dann entsteht eine peinliche Störung im Ablauf der gewohnten Kulthandlung; dann erwachsen ihnen Unannehmlichkeiten; darunter würde ihre Ehre leiden. Das will man nicht riskieren. Allerdings, da liegt vor ihnen am Wege einer in seinem Blute und kann nicht einmal mehr „Zu Hilfe!” rufen.
Aber sein Blut schreit zum Himmel, und der Himmel hat es gehört, und so ruft der Himmel selber „zu Hilfe!” Der Priester und der Levit haben diesen Hilferuf wohl gehört. Aber er paßt ihnen gar nicht in ihre Pläne. Man hat ja so wichtige Amtspflichten. Und es ist ein göttliches Amt, in dem man sich doch nicht lässig zeigen darf. Nein, nein, man kann sich auf gar keinen Fall aufhalten lassen; man darf nicht. Und übrigens kann man ja nicht allen helfen, denen Unglück widerfährt.
Man hat sehr gute Gründe, um den Verwundeten liegen zu lassen. Man hat sehr gute Gründe, um den Hilferuf vom Himmel her zu überhören oder sich taub dagegen zu stellen. Man fügt sich der Notwendigkeit: man läßt den Hilfebedürftigen im Stich zur größeren Ehre Gottes! Es kommt darauf an, daß man Gott ehrt - mit dem Munde - nicht, daß man das Eine tut, was not ist.
Also was ist denn nun das Eine, was not tut? Doch, daß man die Aufgabe erfüllt, die Gott einem vor die Füße gelegt hat. Also gerade nicht irgendeine besondere Pflicht, die einem von der Gesellschaft oder von der religiösen Gemeinschaft oder von einem Vorgesetzten oder einem Ältesten oder von seiner Frau übertragen worden ist oder die Gewohnheit, die Brauch und Sitte vorschreiben, steht im Vordergrund, sondern allezeit das, was Gott von einem haben will. Und was Gott von uns haben will, das sagt uns das Herz, das sagt die Liebe Christi, die durch den Heiligen Geist in unsere Herzen ausgegossen ist. Das sagt uns der Herr in dem Gebot: „Was du möchtest, daß die Menschen es dir tun, das tue auch ihnen.”
Das Eine, was not tut, ist die lebendige Verbindung mit deinem Gott. Und diese Verbindung besteht durch und über den Mitmenschen, den Bruder, den Nächsten. Unsere Aufgabe gegenüber Gott liegt im Menschenbruder vor uns, der unserer bedarf. Durch ihn sagt uns Gott, was Er von uns will. Daß du dieser Stimme gehorchst - unbekümmert um alle Folgen, welche möglicherweise aus dieser Handlung für dich oder andere hervorgehen können, die dir nahe stehen mögen, das ist das Eine.
Es ist eindeutig das, was jetzt die Liebe und die Wahrheit und die reine Vernunft und der Glaube von dir fordern. Es ist das, was in diesem Augenblick getan werden muß und was eben nur du und sonst niemand in diesem Augenblick tun kann, weil der Ruf Gottes an dich und an keinen anderen ergangen ist, und weil möglicherweise gar kein anderer um diese Notwendigkeit wissen kann.
Ein solcher Auftrag Gottes ist eine Ehre und eine Auszeichnung, und wenn du ihn erfüllst, wird der Friede Gottes dein Herz erfüllen, der über allen Verstand geht und das höchste Gut ist, das ein Mensch hier erlangen kann - ein Vorgeschmack des ewigen Friedens und der Herrlichkeit. Darum hast du das gute Teil erwählt, wenn du dieses Eine erkannt hast, und es wird dir zur ewigen Bereicherung. Demgegenüber fallen der Menschen Lob und Tadel nicht ins Gewicht, und du brauchst dich dann gar nicht um diese zu sorgen.
Auf dieses Eine ist Gewicht zu legen. Fragen wir jetzt nicht weiter, was dieses Eine sei. Wir können dir nicht mehr sagen. Du mußt es selber wissen, weil Gott es nur dir offenbart. Menschen mögen vieles von dir verlangen; du brauchst dich gar nicht darum zu kümmern, wenn du das Eine, was Gott dir allein sagen kann, vernommen hast. Es braucht gar nicht immer eine große oder außergewöhnliche Sache zu sein, was Gott von uns will; es braucht sich nicht immer um die Rettung eines Menschenlebens zu handeln. Es ist manchmal nicht mehr, als daß du zur Wahrheit stehst, daß du einer Mehrheit von Widersprechenden gegenüber die Wahrheit verteidigst, daß du ein Bekenntnis ablegst und eine Lüge aus deinem Leben entfernst, daß du ein Mißverständnis oder eine Verkennung zu tragen weißt, daß du um der Wahrheit willen etwas Leiden auf dich nimmst, daß du Prüfungen schweigend hinnimmst.
Ganz selbstverständlich ist, daß du der Erfüllung deiner Pflichten gegenüber der Familie und deinem Amt und deiner Lebensaufgabe gewissenhaft nachkommst, daß du Brauch, Sitte und Anstand nicht leichtfertig verletzt. Aber das alles steht nicht in erster Linie. Sondern im Vordergrund steht deine Pflicht am leidenden Nächsten, das Gebot der Liebe, die Stimme des Gewissens. Eines ist not, Eines ist in allen Lebenslagen das Dringendste und Wichtigste. Dieses muß vor allem anderen getan und erfüllt werden, dann ist auch wieder für die Erfüllung der weniger dringenden Obliegenheiten Raum vorhanden.
Es gibt eine Rangordnung der Pflichten. Diese dürfen wir nicht übersehen, sondern wir sollten vielmehr sehr achtsam darauf sein. Nur dann leben wir „in der Wahrheit”, wenn wir uns an diese Rangordnung halten. Was gilt einer vor Gott, der noch so peinlich im Verzehnten der Krausemünze und des Anis und des Kümmels ist, wenn er dafür die wichtigeren Dinge des Gesetzes beiseite läßt: das Gericht und die Barmherzigkeit und den Glauben? „Diese hättet ihr tun und jene nicht lassen sollen.” - Matthäus 23:23
Unser ganzes Glaubensleben kann zur Heuchelei werden, wenn wir unwichtige Glaubenspflichten in den Vordergrund stellen, dafür aber den wichtigen Forderungen Gottes auszuweichen suchen. Die Rangordnung der Pflichten aber bestimmen weder wir noch eine irdische Instanz. Diese bestimmt Gott. Er wird dir sagen, was jetzt die erste und die nächsten Aufgaben sein werden. Und die Liebe muß uns dann drängen, ohne Verzug und ohne Rücksicht auf Bequemlichkeit und Gewohnheit und Neigung des Fleisches und unseren Ruf oder unser Ansehen diese Pflicht zu erfüllen.
Da gibt es dann keine Unruhe einer kalten Werkgerechtigkeit. Wenn die Liebe Gottes in uns lebt, dann brauchen wir nicht besorgt zu sein, das Ziel zu verfehlen. Dann ist uns auch alles erlaubt und ist alles dem Reinen rein. Weder müssen wir in einer Mönchskutte noch in einer Nonnentracht umhergehen, noch in der Heilsarmeeuniform, noch im Prophetenmantel der „Zeugen Jehovas”. Nicht Kopfhängen und nicht Prophetengebärde, noch Zölibat oder Abstinenz oder Vegetarismus machen den Christen aus, sondern die Liebe zu Gott und dem Nächsten, die man nicht als Aushängeschild verwendet. Auch müssen wir keine menschliche Vollkommenheit oder Tadellosigkeit besitzen; denn die „Liebe bedeckt eine Menge von Sünden”. Unsere Gerechtigkeit ist der Herr, der für unsere Sünden gestorben und zu unserer Rechtfertigung auferweckt worden ist. Sonst haben wir nicht viel Rühmenswertes. Der in uns wohnende Christus wird es bewirken und uns in jeder Tugend vollenden. Hier aber gehen wir als Menschen im Gewand der Niedrigkeit umher. Und wir dürfen Menschen sein. Nur - daß wir eben auf das Eine, was not tut, achtsam sein und darum bitten wollen,daß es uns von oben geschenkt werde, und wir nicht gegebenen Falles „auf der anderen Seite des Weges” an dem vorbeigehen, der unter die Räuber gefallen ist.